Kairos
Künstlerische Intention
Kairos, so heißt die vorliegende großformatige Papierarbeit. Der Name Kairos verweist auf den altgriechischen Begriff für den „rechten Augenblick“, jenen entscheidenden Moment, in dem sich Gelegenheit und Handlung kreuzen. Im Gegensatz zum Chronos, der die fortlaufende Zeit meint, bezeichnet Kairos die Qualität eines einzigartigen Zeitpunktes – den Moment, in dem etwas Besonderes geschehen kann.
Die großformatige Papierarbeit wird von Grüntönen dominiert, durchzogen von unzähligen kleinen Kreisen, die wie Zeitpartikel erscheinen. Im Zentrum öffnet sich ein fensterartiger Raum – eine Mitte, auf die alles zuläuft. Rechts und links sind jeweils vier Ganzkörper-Profilansichten des Kairos zu sehen, in strenger Seitenansicht. Linien verbinden die Figuren mit der Mitte, in der sich acht weitere Darstellungen des Kairos befinden, diesmal konzentriert auf das Kopfprofil.
Diese zentralen Fotografien basieren auf der berühmten Kairos-Darstellung von Francesco Salvati (1543–1545), dem Fresco „Il Tempo Opportuno“ im Palazzo Vecchio in Florenz. Durch Spiegelung, Drehung und Neuordnung treten Bildmotive in Dialog, formen neue, charakteristische Konstellationen und Bildgestalten. Aus dem Zusammenspiel entsteht etwas Eigenständiges, ein neuer Ausdruck, eine neue Bildsprache.
Das Urbild des Kairos geht auf ein verlorenes Bronzebild des antiken Bildhauers Lysipp aus Olympia zurück. Er zeigt den Gott als jugendlichen Läufer, mit gelocktem Stirnhaar und kahlgeschorenem Hinterkopf – Symbol seiner Flüchtigkeit. Flügel wachsen ihm aus Schultern und Fersen, in der einen Hand trägt er eine Balkenwaage, deren rechte Schale er mit dem Zeigefinger andeutet: ein Moment des Wiegens, der Entscheidung.
Die Arbeit versteht sich als Einladung, den Kairos-Moment – jenen günstigen, entscheidenden Augenblick – in Kunst, Politik, Kirche, Gesellschaft und Bildung zu suchen. Sie stellt die Frage nach den Bedingungen für Konzentration, Aufmerksamkeit, Besinnung und Mut. Denn nur wer bereit ist, diesen Moment zu erkennen und zu ergreifen, kann ihn gestalten und Neues entstehen lassen.
Wer bist du?
Ich bin Kairos, der alles bezwingt!
Warum läufst du auf Zehenspitzen?
Ich, der Kairos, laufe unablässig.
Warum hast du Flügel am Fuß?
Ich fliege wie der Wind.
Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer?
Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer.
Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?
Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet.
Warum bist du am Hinterkopf kahl?
Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin,
wird mich auch keiner von hinten erwischen,
so sehr er sich auch bemüht.
Und wozu schuf dich der Künstler?
Euch Wanderern zur Belehrung.“
(Johannes Gründel: Kairos. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band 5, 1996)

